On The Road To Amsterdam 1985

Dieser Text erschien in der Dokumentation „1000 Tage Savoy“
Bärbel Mäkeler (Hg), Braunschweig, 2022 – limited edition

Embryo im Savoy 15.11.1988
Besetzung: Christian Burchard, Dieter Serfas, Marque Lowenthal, Edgar Hofmann, Julius Golombeck, Roman Bunka

15. November 1988, ich sitze im Savoy. Ein runder Tisch, ausgestattet mit einer gebügelten Tischdecke und einer Schirmlampe. An der Bar liebevoll gestapelte Sektkelche und Cocktailgläser, rundherum edles rotbetontes Ambiente mit Varieté Ausstrahlung. Ich fühlte mich ins Berlin der 1920er Jahre zurückversetzt. Die Bühne mit ihrer kleinen Showtreppe wirkte, als ob gleich ein bleicher Mann im Frack eine Jungfrau in einer Kiste zersägen würde. Diese mondäne Atmosphäre war völlig neu für mich, ich war irritiert! Dabei sprachen alle sonstigen Anzeichen für den baldigen Auftritt eines einzigartigen, reisenden Musiker-Kollektivs, der Münchner Band Embryo.

Meine erste Begegnung mit dieser Band erklärt vielleicht meine Verwirrung. Ich stamme aus Wilhelmshaven. Verlängerte Wochenenden in den nahegelegenen Niederlanden waren aus verschiedenen Gründen eine beliebte Freizeitaktivität. Und so tuckerten meine Freunde und ich in meinem roten R4 nach Groningen oder ins etwas weiter entfernte Amsterdam. In den 1980er Jahren war Amsterdam die Aussteiger Hauptstadt Europas. Besetzte Häuser, eine lebendige Alternativkultur und liberale Drogengesetze zogen junge Menschen aus allen Teilen der Welt an.
Mit hunderten anderen Abenteurern übernachteten wir auf dem Boden einer alten Fabrik in der Amsterdamer Innenstadt. Das „Sleep In“ war die Basisstation unserer Aktivitäten. Die Tage verbrachten wir gerne im Vondelpark, auf der Open Air Bühne im Park fanden oft „Free Concerts“ statt. War es im Jahr 1985? Schon von weitem war zu hören, dass im Park ein Konzert stattfand. Ich folgte den Tönen bis zur Bühne. Der Anblick der Szene war atemberaubend: Auf der Wiese, saßen, lagen, tanzten hunderte Menschen. Über allem schwebte eine rot-gelb-grüne Rauchwolke die in Richtung Bühne waberte. Dort spielte die Band Embryo und tat das, was sie seit 1970, und übrigens auch heute noch macht: Mit unglaublicher Spielfreude und Kreativität, Rock, Jazz und Weltmusik verbinden, improvisieren und… kein Ende finden.
Bislang war ich treuer „Classic Rock“ Fan, vom großen Bruder auf Rolling Stones, Deep Purple und ACDC gedrillt. Die Band spielte und spielte…nach einer unendlichen Reise durch Asien-Afrika und die Welt des Jazz-Rock stellte sich mein musikalisches Weltbild auf den Kopf. Diese Musik war frei, spontan und unglaublich kreativ. Davon wollte ich mehr!
Am Schluss verkündete Christian Burchard – der Kopf der Band -, dass Embryo abends im Kulturzentrum Melkweg spielen würden und wir wären alle eingeladen! Hoffnungsfroh pilgerte ich also zum Melkweg. Das mit der Einladung nahm ich wörtlich, Geld hatte ich keins dabei. Nun, nach bald 40 Jahren kann ich es zugeben: Diese Band musste ich unbedingt noch einmal sehen – also habe ich das erste und einzige Mal in meinem Leben gebettelt! Belohnt wurde ich mit einem unvergesslichen Auftritt und einer dichten rot-gelb-grünen Rauchwolke – nun allerdings in einem geschlossenen Raum.

Aber zurück ins Savoy. Als Neu-Braunschweiger kam ich natürlich mit dem „Amsterdam Film“ im Kopf dort an. Hier wird die Erinnerung unscharf, war der Club nur halb voll? Die rot-gelb-grüne Rauchwolke fehlte jedenfalls, die anderen Gäste und die Band waren gut zu erkennen. Das eingangs beschriebene Ambiente passte nicht zu meinem Hippie-Traum. Wenigstens hatte die sechsköpfige Band etwas Chaos verbreitet. Die Bühne war bis zum Rand mit exotischen Instrumenten aus aller Welt vollgestellt. Das reichlich ramponierte Equipment trug die Spuren unzähliger Auftritte in Asien, Afrika und Europa. Roman Bunka stimmte seine vielen Saiteninstrumente, Christian Burchard verkaufte ein paar Cassetten. Ich erinnere eine lockere familiäre Stimmung. Die Musiker schlenderten umher, unterhielten sich mit den Gästen und begrüßten alte Freunde. Über die Getränkepreise habe ich mich geärgert, ich hatte wohl wieder nicht genug Geld dabei. Als es schließlich losging, entstand schnell die spezielle Embryo Magie und wie üblich fand die Band kein Ende. Wie war die Stimmung im Publikum? Ich meine es war eher verhalten, es war kein „Mitmach-Konzert“, alle blieben artig an ihren Tischen sitzen. War das Savoy vielleicht doch etwas zu schick für diese Paradiesvögel?
Ich erinnere mich an ein kurzes Gespräch mit Christian Burchard. Ich fragte ihn,  wie es wäre in so einem feinen Club zu spielen? Er antwortete ungefähr so: „Weißt du, wir haben als Jazzer angefangen und nur in Clubs gespielt. Wenn der Groove da ist, dann trägt der dich, da merkst du eh nicht mehr wo du spielst“. Leider vergaß ich ihn zu fragen, warum man damals im Melkweg, trotz seiner Einladung, Eintritt bezahlen musste.

Michael Baumgart